Erzählkultur im Wandel – vom Lagerfeuer zur Leinwand
Es gibt einen stillen Faden, der sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht: das Erzählen. Geschichten waren nie bloß Unterhaltung. Sie waren Bindung, Orientierung, Überlieferung. Und sie haben sich mit den Mitteln ihrer Zeit verändert – von der mündlichen Erzähltradition über das geschriebene Wort bis hin zur digitalisierten Simulation in interaktiven Welten. Doch mit jedem Schritt dieses Wandels hat sich auch die Rolle des Zuhörenden, Lesenden, Betrachtenden verändert.
Am Anfang stand das gemeinschaftliche Erzählen. In Hütten, an Feuerstellen, auf Marktplätzen oder in Familienkreisen wurde erzählt. Diese Erzählungen waren nicht starr, sondern lebendig: Sie wandelten sich mit jedem Sprecher, passten sich der Zuhörerschaft an. Zuhören war keine passive Tätigkeit, sondern Teilhabe. Man konnte einwenden, erinnern, weitergeben. Geschichten waren kollektives Eigentum, sie gehörten niemandem – und allen.
Mit dem Aufschreiben der Geschichten, wie es etwa die Brüder Grimm taten, begann ein Übergang: Das Erzählen wurde konserviert. Es wurde reproduzierbar, aber auch verfestigt. Das Erzählen wurde zu Literatur. Die Erzählung wurde Werk – mit Autor, mit Text, mit Struktur. Der Leser wurde zum individuellen Rezipienten. Was früher zwischen Menschen geschah, geschah nun im Inneren des Einzelnen.
Das Theater brachte das Erzählen wieder ins Leben zurück – aber nun als Darstellung. Auf der Bühne wurden Geschichten erneut lebendig, doch das Publikum blieb passiv. Man war nicht mehr Teil des Erzählens, sondern Zuschauer einer Deutung. Theater war ein Spiegel – aber einer, den andere hielten.
Der Film schließlich perfektionierte diese Form der Erzählung. Durch Kamera, Schnitt, Musik und Schauspiel wird eine Geschichte nicht nur erzählt, sondern komplett durchgestaltet. Der Zuschauer sieht, was gezeigt wird. Seine Vorstellungskraft wird nicht angeregt, sondern ersetzt. Besonders bei bekannten Buchverfilmungen wird das sichtbar: Wer Harry Potter zuerst im Kino sah, wird beim Lesen unweigerlich Daniel Radcliffes Gesicht sehen – das innere Bild ist kolonisiert. Der Film ist die Imagination des Regisseurs – nicht die des Zuschauers.
Und dann kommen die Computerspiele: Sie geben scheinbar Freiheit zurück – aber in kontrollierter Form. Der Spieler darf wählen, aber nur innerhalb vorgegebener Pfade. Die Geschichte lebt, ja – aber sie ist programmiert. Es ist Interaktion ohne Offenheit.
Diese Entwicklung ist nicht falsch oder schlecht. Sie zeigt nur eine Bewegung: vom gemeinsam geteilten Erzählen hin zur immer stärker geführten Rezeption. Und vielleicht stehen wir heute an einem Punkt, an dem genau das fehlt: Räume, in denen Geschichten wieder geteilt, verändert, gemeinsam getragen werden. Wo Phantasie nicht gezeigt, sondern gefragt wird. Wo Zuhören eine Handlung ist – wie bei Momo.
Es geht dabei nicht um Nostalgie, sondern um Zukunft. Denn eine Gesellschaft, die nur noch Geschichten konsumiert, verliert irgendwann die Fähigkeit, sich selbst eine zu erzählen. Vielleicht liegt genau darin die Verantwortung von Literatur, Theater, Film und Spiel heute: nicht zu dominieren, sondern Räume zu öffnen – für das Eigene, das Gemeinsame, das Menschliche.