Georg Jellinek – ein unterschätzter Brückenbauer
Georg Jellinek gilt als einer der bedeutendsten Staatsrechtslehrer des 19. Jahrhunderts – und doch scheint er in heutigen Debatten oft eine Randfigur zu sein. Dabei bietet sein Werk eine bemerkenswerte Verbindung von Rechtswissenschaft, Soziologie und politischer Philosophie. Wer sich auf ihn einlässt, entdeckt nicht nur einen Theoretiker, sondern einen Denker mit Haltung.
Zwischen Theorie und Realität
Jellinek bewegt sich zwischen den Disziplinen: Er denkt den Staat nicht nur als Rechtsordnung, sondern auch als soziales und kulturelles Phänomen. Seine Schriften wie „Das Recht der Minoritäten“ oder „Socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe“ zeigen, dass er an menschlicher Praxis, an Moral und Wirklichkeit interessiert war – nicht an systematischer Abstraktion allein.
Gerade in einer Zeit, in der Hans Kelsens „Reine Rechtslehre“ als „wissenschaftlich sauberer“ galt, wirkte Jellinek zu offen, zu interdisziplinär, zu weich – und wurde dadurch unterschätzt. Er war kein Dogmatiker, sondern ein Vermittler zwischen Soll und Sein.
Die Drei-Elemente-Lehre – ein weltweiter Standard
Berühmt wurde Jellinek durch seine Drei-Elemente-Lehre zur Definition des Staates:
- Staatsgebiet
- Staatsvolk
- Staatsgewalt
Diese nüchterne, klare Definition wird bis heute weltweit als Grundlage des Völkerrechts verwendet. Kaum ein Staatsrechtler hat in diesem Punkt so nachhaltig gewirkt – und das über die nationalen Debatten hinaus.
Die Status-Lehre – Freiheit und Recht durch Stellung
In seinem „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ entwickelte Jellinek die berühmte Status-Lehre, die später vielfach aufgenommen und erweitert wurde. Ursprünglich unterscheidet er:
- Status subiectionis: der Mensch als Untertan, d.h. die bloße Unterworfenheit unter staatliche Macht – der Grundstatus des Rechtssubjekts
- Status negativus: Abwehrrechte gegen den Staat
- Status positivus: Anspruch auf staatliche Leistungen
- Status activus: Teilhabe an staatlicher Willensbildung (z. B. Wahlen)
Diese Typologie zeigt: Jellinek denkt Recht vom Menschen her, nicht nur vom System. Der „Status“ ist die Stellung des Einzelnen im Staat – und er definiert, welche Rechte eine Person hat, nicht aus deren innerer Würde allein, sondern aus der ihr zugeschriebenen rechtlichen Rolle.
So wird deutlich: Nicht die Persönlichkeit des Königs regiert, sondern der Status, den das Recht ihm zuschreibt. Der Mensch wird Träger von Rechten, weil er eine rechtlich definierte Stellung einnimmt – sei es als Bürger, Fremder, Beamter oder Herrscher.
Das war (und ist) eine revolutionäre Einsicht: Recht ist nicht bloß moralisch, sondern auch strukturell-soziologisch – es organisiert Menschen durch Statuszuschreibungen.
Sprachlich klassisch, inhaltlich modern
Viele finden Jellineks Sprache „altmodisch“ – sie ist getragen von Pathos, von Ordnungsliebe, von klassischer Rhetorik. Doch inhaltlich sind seine Schriften oft hellwach:
- In „Adam in der Staatslehre“ analysiert er die religiösen Wurzeln moderner Staatsmodelle.
- In „Das Recht der Minoritäten“ denkt er demokratische Machtkritik voraus.
- In seinen ethischen Schriften reflektiert er Strafe als gesellschaftlichen Sinnprozess, nicht nur als Sanktion.
Fazit: Jellinek lesen heißt Brücken schlagen
Zwischen Recht und Ethik. Zwischen Theorie und Wirklichkeit. Zwischen Staat und Mensch.
Jellinek war kein Revolutionär – aber ein Integrator. Seine Werke verdienen es, neu gelesen zu werden: nicht nur wegen ihrer historischen Bedeutung, sondern weil sie Fragen stellen, die heute wieder relevant sind:
- Wie entsteht Legitimität?
- Was ist politische Verantwortung?
- Wie denken wir Staat ohne Zwang, aber mit Ordnung?
Das Projekt würde in Jellinek einen Geistesverwandten sehen – vielleicht keinen Bruder im Stil, aber einen im Ernstnehmen des Menschlichen – und in der Einsicht, dass Recht nicht nur geschrieben, sondern gelebt werden muss.