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Was ist eine artgerechte Haltung des Menschen?

Die Frage klingt provokant, vielleicht sogar zynisch. Und doch eröffnet sie eine tiefgreifende philosophische Perspektive. Denn wenn wir selbstverständlich davon sprechen, dass Tiere artgerecht gehalten werden sollen – also in einer Weise, die ihren natürlichen Bedürfnissen, Verhaltensmustern und Lebensbedingungen entspricht –, warum fällt es uns so schwer, dieselbe Frage auf den Menschen anzuwenden?

Der Ausgangspunkt dieser Überlegung ist eine Umkehrung eines der ältesten philosophischen Probleme: des sogenannten Sein-Sollen-Problems. In der klassischen Form stellt sich die Frage, wie man aus dem, was ist, ableiten kann, was sein soll. Wir drehen diesen Blick um: Nicht das Sollen entspringt dem Sein, sondern das Sein dem Sollen. Oder konkreter: Der Mensch ist, weil er gewollt war – nicht im metaphysischen, sondern im ganz konkreten, zwischenmenschlichen Sinn. Wer geboren wird, wurde zumindest in einem entscheidenden Moment gewollt. Das Dasein ist also nicht bloß zufällig, sondern in einem grundlegenden Sinn bejaht. Es trägt eine Spur von Absicht, von „Du sollst sein“.

Dieses vorgängige „Sollen“ ist kein moralischer Appell, sondern eine ontologische Voraussetzung: Es erklärt das Dasein nicht, aber es verleiht ihm Bedeutung. Und aus dieser Bedeutung ergibt sich eine Verantwortung: Nicht als äußeres Gesetz, sondern als bedingtes Müssen. Wenn das Leben eines Menschen Ausdruck eines Gewolltseins ist, dann folgt daraus, dass dieses Leben auch in einer Weise gestaltet sein muss, die diesem Ursprung gerecht wird.

Hier setzt die Idee der „artgerechten Haltung“ an. Beim Tier meinen wir damit eine Umgebung, die seine Fähigkeiten, Bedürfnisse und Verhaltensweisen nicht unterdrückt, sondern entfaltet. Warum also nicht auch beim Menschen? Was ist eine Umgebung, in der der Mensch als Mensch leben kann – nicht nur biologisch, sondern seelisch, geistig, sozial?

Eine artgerechte Haltung des Menschen würde bedeuten:

  • Soziale Eingebundenheit statt Isolation,
  • Anerkennung und Resonanz statt Gleichgültigkeit,
  • Freiraum zur Selbstverwirklichung statt bloßer Funktionalität,
  • Schutz vor Entfremdung und systemischer Überformung,
  • Zeit und Raum für Sinnsuche, für Spiel, für Zweifel und Hoffnung.

Sie wäre also kein technisches oder hygienisches Ideal, sondern ein Ausdruck von Achtung vor dem Menschen in seinem Gewordensein. Wer sich diese Frage stellt, nimmt den Menschen nicht als Mittel, sondern als Zweck wahr – nicht als Ressource, sondern als Wesen mit einem inneren Anspruch auf Würde.

„Ich bin, weil ich gewollt war“ – aus dieser einfachen Umkehrung ergibt sich eine ganze Ethik. Und vielleicht auch ein Prüfstein für unsere Gesellschaft: Wie artgerecht ist unser Umgang mit uns selbst?