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Was, wenn zwei sich einigen und ein Dritter leidet?

Verträge gelten als Inbegriff moderner Freiheit: Zwei oder mehr Parteien einigen sich freiwillig auf Regeln, Bedingungen, Leistungen. Ob im Privatrecht, im Arbeitsleben oder in internationalen Beziehungen – der Vertrag erscheint als Ausdruck rationaler Autonomie. Niemand zwingt, niemand wird gezwungen. Was verhandelt wurde, gilt. So weit die Theorie.

Doch was geschieht, wenn ein Vertrag nicht nur die Beteiligten betrifft? Wenn es einen Dritten gibt, der nicht gefragt wurde, aber die Folgen tragen muss? Die Vertragstheorie in ihrer klassischen Form hat dafür keine gute Antwort. Denn sie basiert auf dem Prinzip des Konsenses. Was im Konsens geschieht, gilt als legitim. Aber das Leben kennt mehr als Konsenspartner. Es kennt Mitbetroffene, Unbeteiligte, Schutzlose. Es kennt die Dritten.

Ein einfaches Beispiel: Zwei Elternteile einigen sich nach der Trennung auf ein Umgangsmodell, das ihnen beiden entgegenkommt. Der eine hat mehr Freizeit, die andere mehr Planungssicherheit. Alles scheint geregelt. Doch das Kind, um das es geht, wurde nicht gefragt. Es möchte vielleicht mehr Zeit mit dem Vater verbringen. Oder es leidet unter dem ständigen Wechsel. Der Vertrag ist geschlossen – aber nicht gerecht.

Noch deutlicher wird es auf politischer Ebene: Wenn Staaten Handelsabkommen schließen, kann das Auswirkungen auf ökologische Ressourcen, indigene Bevölkerungen oder künftige Generationen haben. Doch diese werden oft nicht einbezogen. Der Vertrag dient den Interessen der Unterzeichnenden – aber nicht zwangsläufig dem Gemeinwohl.

Selbst bei scheinbar freien Vertragsverhältnissen wie der Lohnverhandlung zeigt sich: Der eine zahlt, was er kann oder will – der andere akzeptiert, weil er hofft, muss oder schweigt. Was wie ein gleichberechtigter Austausch aussieht, beruht oft auf ungleichen Voraussetzungen: ökonomischem Druck, Informationsmangel oder psychologischer Unsicherheit. Der Vertrag entsteht – aber wer schützt den, der nur noch zustimmen kann?

Hier zeigt sich eine tieferliegende Problematik: Interessen können legitim sein, ohne gerecht zu sein. Und ein Vertrag kann freiwillig geschlossen werden, ohne ethisch zu bestehen. Der „unbekannte Dritte“ ist dabei kein juristisches Konstrukt, sondern eine ethische Figur. Er steht für all jene, die nicht am Tisch sitzen, aber trotzdem betroffen sind.

Der Philosoph John Rawls hat mit dem „Schleier des Nichtwissens“ ein Gedankenexperiment entwickelt, das dem sehr nahekommt: Nur das gilt als gerecht, was man auch dann akzeptieren würde, wenn man nicht weiß, welche Position man in der Gesellschaft einnehmen wird.

Wer also einen Vertrag schließt, sollte sich fragen: Was würde der Dritte sagen? Der, den ich nicht kenne? Der, der noch nicht geboren ist? Oder der, der keine Stimme hat?

Vielleicht wäre das die moderne Erweiterung des Vertragsdenkens: Kein Konsens ohne Empathie. Kein Interesse ohne Verantwortung. Kein Vertrag ohne Rücksicht auf die, die nicht unterschreiben konnten.