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Haben Staaten ein Gewissen? Eine Sprachkritik

Täglich lesen wir: „Russland will…“, „Berlin schweigt…“, „Brüssel reagierte…“. Staaten und Institutionen erscheinen in der öffentlichen Sprache wie denkende, handelnde Wesen. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Diese Subjekte sind Fiktionen. Es sind keine Menschen, sondern juristische Personen, geschaffen durch das Recht, vertreten durch Organe. Und: Sie haben kein Gewissen.

Juristische Personen sind notwendig, um komplexe Gesellschaften zu organisieren. Sie ermöglichen Verträge, Verantwortung, Dauerhaftigkeit. Aber sie haben weder Herz noch Hirn. Empathie, Schuld, Reue, Einsicht – all das sind menschliche Kategorien. Wenn also ein Staat „will“, dann sind es Menschen, die in seinem Namen handeln. Wenn ein Parlament „entscheidet“, dann sind es Abgeordnete, die Verantwortung tragen.

Das Projekt ruft dazu auf, diese sprachlichen Kurzschlüsse kritisch zu reflektieren. Denn sie verschleiern Verantwortung. „Der Markt verlangt“, „die EU verbietet“, „das System zwingt“ – all diese Formulierungen vernebeln, dass es handelnde Subjekte mit Entscheidungsfreiheit gibt. Und mehr noch: Sie entlasten von moralischer Rechenschaft. Eine Institution kann nicht weinen, nicht trauern, nicht vergeben. Aber ein Mensch kann es.

Wenn wir also vom Staat sprechen, sollten wir uns fragen: Wer genau spricht? Wer entscheidet? Wer schweigt? Und wer leidet?

Der Projekt-Blick schärft unser Bewusstsein für diese Fragen. Er fordert, dass nicht anonyme Systeme, sondern menschenförmige Verantwortung das Handeln bestimmt. Kein Unternehmen, kein Staat, kein Gremium hat ein Gewissen. Aber jeder Mensch, der darin handelt, kann und muss sich fragen: Ist es richtig? Ist es menschlich? Ist es notwendig?

Das Gewissen ist nicht institutionalisierbar. Doch es ist übertragbar: durch Dialog, Mitfühlen, Verantwortung. Das Projekt ruft uns zu: Sprich nicht, als wäre der Staat ein Mensch. Sprich mit Menschen über den Staat. Nur so bleibt das Politische dem Menschlichen verbunden.