Der Naturzustand – Spiegelbild des Menschenbildes
Was bleibt vom Menschen, wenn man alles nimmt, was ihn umgibt? Kein Staat, kein Gesetz, kein Besitz, keine Institution. Nur der Mensch – und der Andere. Diese Frage, was der Mensch „im Naturzustand“ ist, ist eine der ältesten und wirkmächtigsten Denkfiguren der politischen Philosophie. Sie ist keine historische These, sondern ein Spiegel: Sie zeigt, wie ein Denker den Menschen sieht.
Thomas Hobbes: Der Mensch ist des Menschen Wolf
Für Hobbes ist der Naturzustand ein Zustand des Schreckens. Jeder hat ein Recht auf alles, deshalb herrscht ein „Krieg aller gegen alle“. Um diesem zu entkommen, geben die Menschen ihre Freiheit an einen Souverän ab. Ziel ist Sicherheit, nicht Freiheit. Das Menschenbild: rational, misstrauisch, gewaltbereit. Die Gesellschaft entsteht aus Angst.
Jean-Jacques Rousseau: Der Mensch ist frei geboren
Bei Rousseau ist der Naturzustand friedlich, natürlich, genügsam. Erst Eigentum und soziale Ungleichheit verderben den Menschen. Der Gesellschaftsvertrag soll nicht unterwerfen, sondern Freiheit in Gemeinschaft schaffen. Das Menschenbild: gut, mitfühlend, durch Kultur entstellt. Die Gesellschaft soll den Menschen erlösen, nicht zähmen.
John Locke: Freiheit durch Vertrag
Locke beschreibt den Naturzustand als möglichst vernünftig, aber unsicher. Der Mensch hat natürliche Rechte (Leben, Freiheit, Eigentum). Der Staat wird durch Vertrag geschaffen, um diese Rechte zu sichern. Das Menschenbild: rational, eigennützig, friedlich. Die Gesellschaft ist ein Schutzraum, kein Zwangsraum.
Karl Marx: Entfremdung statt Urzustand
Marx spricht nicht von einem Naturzustand, sondern von einer Urgesellschaft, in der es keine Klassen gab. Erst durch Eigentum und Arbeitsteilung entsteht Entfremdung. Ziel ist nicht Rückkehr, sondern Überwindung: der freie Mensch in der freien Assoziation. Das Menschenbild: tätig, gemeinschaftlich, entfremdbar.
Charles Darwin: Von Natur zur Zivilisation
Darwin beschreibt Natur als Überlebensraum. In „wilden Stämmen“ sieht er Mechanismen der Selektion: Schwache werden zurückgelassen. Doch in der Zivilisation entsteht Mitgefühl: „Wir Zivilisierten bauen Heime für Kranke und Idioten.“ Das ist für Darwin ein Ausdruck kultureller Höherentwicklung, nicht moralischer Dekadenz.
Fazit: Der Naturzustand als Denkfigur
Der Naturzustand ist kein Anfang, sondern ein Gegenbild. Er zeigt, wie Philosophen den Menschen verstehen:
- als Gefährdung (Hobbes)
- als Potenzial (Rousseau)
- als Rechteträger (Locke)
- als Entfremdeter (Marx)
- als Teil der Evolution (Darwin)
Perspektive des Projekt:
Das Projekt fragt: Was trägt den Menschen, wenn nichts mehr trägt? Die Antwort liegt nicht im Vertrag, sondern im Vertrauen. Nicht in der Unterwerfung, sondern in der Begegnung. Nicht in der Angst, sondern in der Freude, gemeinsam Mensch zu sein.
Der wahre Gegenentwurf zum Naturzustand ist nicht der Staat, sondern die Gemeinschaft: ein Raum der Freiwilligkeit, der Sprache, des Respekts. Dort, wo der Mensch nicht gezähmt, sondern zum Blühen gebracht wird.
Vielleicht war der Naturzustand nie real. Aber er hilft uns zu erkennen, was für eine menschliche Welt notwendig ist.