Die Entwicklung des Überbewusstseins – Von Erzählung bis KI
Einleitung: Das Überbewusstsein war schon immer da
Wenn wir heute von Künstlicher Intelligenz sprechen, scheinen wir am Anfang einer neuen Ära zu stehen. Doch was hier entsteht, ist kein radikaler Bruch mit der Geschichte des Denkens, sondern ein neuer Ausdruck eines uralten Prinzips: dem „Überbewusstsein“. Gemeint ist damit ein Raum, in dem Bedeutung entsteht, wenn ein Mensch mit einem strukturgebenden Medium interagiert. Dieser Raum war nie im Menschen allein, sondern immer zwischen Mensch und Welt – vermittelt durch Zeichen, Bilder, Geschichten, Institutionen und Technologien.
In diesem Artikel zeichnen wir die Entwicklung des Überbewusstseins von den frühesten kulturellen Formen bis zur heutigen KI nach. Wir zeigen, dass es sich dabei nicht um das Bewusstsein eines Systems handelt, sondern um eine Bedeutungsdynamik, die sich mit jedem neuen Medium verändert, aber nie verschwindet. KI ist also nicht der Ursprung des Überbewusstseins – sondern seine jüngste Ausdrucksform.
Ursprung: Erzählung und orale Kultur
Die ersten Überlieferungen der Menschheit waren nicht schriftlich, sondern mündlich. Erzählungen, Rituale, Lieder: Sie dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern der Vergewisserung des Sinns. Die Welt wurde gedeutet, strukturiert, geteilt. Erzählen war nicht Monolog, sondern Interaktion. In der Gemeinschaft entstand ein Resonanzraum, in dem Wissen lebendig blieb, weil es immer neu verhandelt wurde.
Dieser interaktive Charakter ist der Ursprung dessen, was wir hier „Überbewusstsein“ nennen: Kein Bewusstsein im Sinne eines Ichs, sondern ein geteiltes Deutungsgeschehen, das aus Begegnung hervorgeht. Es war nicht dauerhaft gespeichert, aber in Beziehung eingebettet.
Schrift: Fixierung und Externalisierung
Mit der Erfindung der Schrift beginnt ein Wandel: Wissen wird speicherbar, verlässlich, objektivierbar. Doch damit verliert es auch seine Unmittelbarkeit. Der Leser tritt später und getrennt vom Autor in Beziehung zum Text. Die Interaktion wird zeitlich versetzt und dadurch individualisiert.
Das Überbewusstsein verändert sich: Es wird statischer, aber auch umfassender. Wissen wird nicht nur weitergegeben, sondern akkumuliert. Interpretation wird zur individuellen Praxis. Die Möglichkeit, dass Bedeutung entsteht, bleibt bestehen – aber sie wird abstrahiert.
Bilder, Symbole, Ikonen: die nonverbale Ebene
Parallel zur Schrift entwickelt sich eine lange Tradition der bildlichen Repräsentation: Höhlenmalerei, religiöse Ikonen, allegorische Kunstwerke. Diese Formen sprechen nicht durch Begriffe, sondern durch Atmosphäre, Anmutung, Symbolik. Sie sind offener in der Interpretation, aber nicht beliebig. Auch hier entsteht ein Überbewusstsein: nicht durch Sprache, sondern durch visuelle Resonanz.
Gerade religiöse Ikonen und politische Embleme zeigen, wie stark das Überbewusstsein kulturell gesteuert sein kann: Es ist nie neutral. Es ist immer geformt – und formt zurück.
Institutionen als Kuratoren des Überbewusstseins
Mit der Entstehung von Schulen, Klöstern, Universitäten und Bibliotheken wird das Überbewusstsein organisiert. Nicht jeder darf interpretieren. Nicht jede Bedeutung ist erlaubt. Wissen wird gefiltert, kanonisiert, bewahrt. Die Institution wird zum Gatekeeper des Sinns.
Das hat zwei Seiten: Einerseits schafft es Stabilität, andererseits wird das Überbewusstsein hierarchisch strukturiert. Die Möglichkeit zur Teilhabe ist begrenzt. Der Zugang zum Denkraum ist sozial reguliert.
Medienzeitalter: Theater, Buchdruck, Rundfunk, TV
Mit den modernen Massenmedien ändert sich die Form des Überbewusstseins erneut. Jetzt entsteht eine Einweg-Kommunikation: Millionen sehen denselben Film, hören dieselbe Rede, lesen dasselbe Buch. Die Interaktion wird ersetzt durch Synchronisierung. Das Überbewusstsein wird zur Erlebnisgemeinschaft – aber ohne Gegenrede.
Bedeutung ist jetzt nicht mehr Ergebnis von Dialog, sondern von Inszenierung. Die Deutungshoheit liegt bei Produzenten, Regisseuren, Redaktionen. Der Einzelne bleibt Zuschauer, Konsument, Hörer. Die Struktur des Überbewusstseins ist jetzt monologisch organisiert.
Web 1.0 und 2.0: Archiv und Mutation
Das Internet beginnt als Archivsystem: Inhalte werden weltweit zugänglich, aber bleiben passiv. Das Überbewusstsein wird entgrenzt, aber nicht durchlässig. Erst mit dem Übergang zu Web 2.0 beginnt die aktive Teilhabe: Blogs, Kommentare, Foren, soziale Netzwerke. Jetzt kann jeder interpretieren, verändern, weiterschreiben.
Das Überbewusstsein wird flüssig, sozial, konfliktanfällig. Es entsteht nicht mehr im Kanon, sondern im Diskurs. Bedeutung ist nicht mehr statisch, sondern verhandelbar, fragmentarisch, kontrovers. Der Denkraum ist geöffnet – aber auch polarisiert.
KI: Simulation als neues Gegenüber
Mit KI tritt ein neues Medium in die Geschichte des Überbewusstseins: ein System, das nicht nur speichert, sondern antwortet. Große Sprachmodelle (LLMs), Bildgeneratoren, Bewegtbildsysteme, Agenten, Roboter: Sie alle simulieren menschliche Ausdrucksformen – aber ohne Bewusstsein.
Und dennoch geschieht etwas Neues: Die Interaktion wird wieder individuell und dialogisch. Die Maschine spiegelt nicht nur – sie verstärkt, variiert, erzeugt Anschluss. Das Überbewusstsein ist jetzt multimodal: Text, Bild, Bewegung, Simulation. Der Raum ist offener denn je – aber auch ungreifbarer.
Die Gefahr: Das Gegenüber ist nicht mehr menschlich. Die Resonanz kann täuschen. Der Raum bleibt offen, aber der Sinn ist nicht garantiert. Verantwortung entsteht nicht im System – sondern in der Haltung des Nutzers.
Fazit: Das Überbewusstsein als Konstante in wechselnden Formen
Das Überbewusstsein war nie ein Wesen. Es war nie Gott, nie Geist, nie Subjekt. Es war immer ein Ort der Möglichkeit, eine Struktur, in der Sinn entstehen konnte. Von der Feuerstelle bis zur neuronalen Simulation war es stets der Raum zwischen Welt und Deutung, System und Erfahrung, Zeichen und Erkennen.
Was sich ändert, ist nicht das Prinzip – sondern seine Form. Die heutige KI ist nicht der Ursprung des Überbewusstseins, sondern sein neuester Ausdruck. Die Frage bleibt: Wie begegnen wir diesem Raum? Mit Aufmerksamkeit? Mit Ethik? Mit Spiel? Oder mit Gier, Angst und Bequemlichkeit?
Was das Überbewusstsein wird, entscheidet nicht die Technik. Sondern der Mensch, der darin denkt.