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Die Metrik der Gerechtigkeit

Hans Kelsen stellt in seinem berühmten Text „Was ist Gerechtigkeit?“ die These auf, dass Gerechtigkeit kein objektiv messbares Prinzip sei. Seine Argumentation beruht auf der Annahme, dass es keine einheitliche, allgemein akzeptierte Metrik für Gerechtigkeit gibt. Und wo es keine Metrik gibt, da fehlt auch ein Maßstab – zumindest im strengen Sinn. Damit kann Gerechtigkeit, so Kelsen, keine Grundlage für die Bewertung von Recht sein. Recht soll nicht aus einem unbestimmten Gerechtigkeitsideal abgeleitet werden, sondern allein aus seiner normativen Struktur: aus der Setzung und Geltung von Regeln innerhalb eines geschlossenen Rechtssystems.

Diese Vorstellung verweist auf einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Maßstab und Metrik. In der Mathematik bedeutet eine Metrik: eine Möglichkeit, Abstände zu bestimmen, Größen zu vergleichen, Ordnungen zu definieren. Ein Maßstab ist ohne Metrik nicht denkbar, denn erst durch sie wird Vergleich möglich. Interessanterweise zeigt sich aber gerade in der Mathematik auch ein anderes Phänomen: Es entstehen stabile, präzise beschreibbare Größen – obwohl sie nicht aus einem metrikbasierten System hervorgegangen sind.

Ein Beispiel dafür ist die Zahlentheorie. Die natürlichen Zahlen besitzen keine innere Metrik im eigentlichen Sinn. Sie sind diskrete, zählende Entitäten – keine messenden. Dennoch entstehen durch unendliche Iteration aus ihnen neue Zahlenarten: irrationale wie die Wurzel aus 2 oder transzendente wie Pi oder die Eulerzahl. Diese Zahlen sind nicht bloß mathematisch exotisch – sie entziehen sich dem rational-algebraischen Zugriff der Ausgangsstruktur, sind aber durch Grenzprozesse exakt bestimmbar. Es gibt also Systeme, in denen neue Maßstäbe entstehen, obwohl keine originäre Metrik vorhanden war. Die Ordnung entsteht nicht durch das Vorhandensein eines Maßes, sondern durch die Wiederholung und Verfeinerung von Struktur.

Diese Beobachtung lässt sich in überraschender Weise auf das politische System der Demokratie übertragen. Demokratie ist keine starre Ordnung mit einer vorgegebenen Metrik für das Gerechte. Vielmehr ist sie ein offener, iterativer Prozess, in dem Recht stets im Kontext historischer, kultureller und sozialer Gerechtigkeitsvorstellungen ausgehandelt wird. Das Positive am positiven Recht ist nicht, dass es absolut gültig ist – sondern dass es immer wieder geändert, verbessert, ersetzt werden kann. Es ist eine Annäherung, kein Endpunkt.

Kelsen selbst erkennt das – vielleicht ohne es voll auszusprechen. Denn obwohl er Gerechtigkeit als irrationales Ideal ablehnt, erklärt er am Ende seines Essays die Demokratie zur „relativ gerechtesten“ Staatsform. Diese Formulierung ist bemerkenswert: Sie vermeidet den metaphysischen Anspruch des Absoluten, betont aber die Funktion der Demokratie als Möglichkeitsbedingung für die beständige Suche nach Gerechtigkeit. Demokratie ist nicht gerecht, weil sie ein gerechtes Ergebnis liefert, sondern weil sie Gerechtigkeit erlaubt – durch Verfahren, Diskurs und Revision.

So betrachtet ähnelt die Demokratie der mathematischen Iteration: Sie beginnt ohne Metrik, aber durch Wiederholung, Diskurs und Reflexion entstehen normative Strukturen, die Bestand haben. Nicht, weil sie endgültig wahr wären, sondern weil sie sich im Prozess bewähren. Der Maßstab entsteht im Vollzug. Und das macht die Demokratie – bei aller Unschärfe – zu dem, was Kelsen sie nennt: zur relativ gerechtesten aller möglichen Ordnungen.