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Erste Wahrnehmungen und das ungefragte Dasein

Noch bevor der Mensch geboren wird, beginnt er zu erleben. Nicht als bewusstes Ich, sondern als Körper im Werden, als Leben in einem Raum, der ihn umhüllt, trägt und schützt. Der Mutterleib ist nicht nur ein biologischer Ort – er ist der erste „Raum“, den der Mensch wahrnimmt: warm, rhythmisch, pulsierend. Diese Wahrnehmung ist nicht analytisch, nicht sprachlich, nicht reflektiert – sie ist ursprünglich. Und sie ist eingebettet in ein Gefühl von Geborgenheit.

Das erste, was der Mensch erlebt, ist nicht ein Bild, nicht ein Wort, nicht ein Ding – sondern ein Zustand. Ein Sein in Beziehung, noch vor jedem Begriff. Der Tastsinn entwickelt sich früh, gefolgt von Hören, Schmecken, Riechen. Das Sehen bleibt lange undeutlich. Doch all diese Sinne wachsen nicht aus einem Willen heraus, sondern folgen dem Rhythmus des Werdens. Der Embryo entwickelt Mittel, um den Raum zu ergründen, in den er gesetzt wurde – nicht aus Neugier, sondern aus Natur.

Dabei wird das Kind nicht gefragt. Es wird nicht eingeladen, sondern ist einfach da. Es hat keine Möglichkeit, sich gegen sein Entstehen zu wehren. Der Wille ist noch nicht geboren – nur das Leben selbst. Genau in dieser Ohnmacht liegt eine paradoxe Stärke: Das Kind trägt keine Schuld an seinem Dasein. Es hat nichts getan, um zu sein. Und gerade deshalb ist sein Dasein unschuldig.

Diese Unschuld ist keine moralische Qualität, sondern eine ontologische. Sie ist der Anfang aller Ethik, aller Verantwortung, aller Würde. Denn wer nicht selbst über sein Sein verfügen konnte, darf auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden für dieses Sein. Die erste Pflicht der Welt – verkörpert durch die Mutter – ist daher nicht Gerechtigkeit, sondern Anerkennung. Das Kind muss nicht erst etwas leisten, um angenommen zu werden. Es ist da – und das genügt.

So beginnt menschliches Leben nicht mit Freiheit, sondern mit Ausgeliefertsein. Nicht mit einem Ich, sondern mit einem Mit. Nicht mit einem Nein, sondern mit einem unausgesprochenen Ja. Und dieses Ja ist der erste Ausdruck dessen, was wir Würde nennen.