Recht ohne Pflicht
Ein Recht ohne Pflicht ist leer. Denn jedes Recht setzt eine Verantwortung voraus, die sich nicht aus äußerem Zwang, sondern aus innerer Einsicht ergibt. Die tiefste Form dieser Verantwortung ist die Selbstverpflichtung. Sie entsteht dort, wo der Mensch seine eigene Würde erkennt – nicht als gesellschaftlich zugewiesene Qualität, sondern als Tatsache seines unverschuldeten, aber realen Gewordenseins.
Diese Selbstverpflichtung ist keine moralische Pflicht im Sinne einer fremden Norm, sondern ein Akt der Freiheit: ein bewusstes, sprachlich formulierbares Ja zur eigenen Existenz. In diesem Sinne ist der Eid – als performativer Sprechakt – die Urform jeder normativen Setzung. Er füllt, was Hans Kelsen als „leere Grundnorm“ bezeichnet hat. Die Grundnorm des Rechts ist leer, solange sie nicht durch einen Akt der Verpflichtung konkretisiert wird. Doch dieser Akt kann nicht von außen auferlegt werden. Er muss gesprochen werden – von einem Ich, das sich seiner eigenen Würde bewusst wird.
John Searles Sprechakttheorie bietet hierfür den begrifflichen Rahmen: Ein „Ich verpflichte mich“ verändert den Status der Wirklichkeit. Es schafft eine neue soziale Realität – eine Verpflichtung, die vorher nicht bestand. Auf diese Weise wird aus dem Sein ein Sollen. Und dieses Sollen ist nicht fremd, sondern selbst gegeben. Es ist Ausdruck einer inneren Ordnung, die sich aus dem Faktum der Existenz ableitet.
Daraus folgt: Es gibt ein Recht auf Selbstverpflichtung – ein natürliches Recht, das aus der menschlichen Würde hervorgeht. Doch dieses Recht wird nicht immer institutionell anerkannt. Es wird nicht garantiert. Es wird nicht gewährt. Und doch besteht es. Es ist das Recht, dem eigenen Leben Bedeutung zu geben – durch ein gesprochenes, bewusstes, bejahtes „Ich will“.
So steht am Anfang des Rechts nicht die Norm, nicht der Staat, nicht die Gesellschaft – sondern das Ich, das sich selbst in die Pflicht nimmt. Und in diesem Akt liegt das erste und tiefste Recht: das Recht, sich selbst zu verpflichten – aus Achtung vor dem eigenen Dasein.