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Was Mary über Sprache lehrt

Mary ist klug. Sehr klug. Sie weiß alles über Farben. Ihre Welt ist schwarz-weiß, doch ihr Wissen ist farbig. Sie kennt die Wellenlängen von Rot, die Funktionsweise der Sehzellen, die neuronalen Prozesse, die Farbwahrnehmung begleiten. Doch dann geschieht es: Mary verlässt ihr Zimmer. Und zum ersten Mal sieht sie rot.

Was passiert in diesem Moment?

Sie erfährt etwas, das jenseits ihres Wissens liegt. Etwas, das keine Gleichung, kein Diagramm, kein wissenschaftlicher Text beschreiben konnte. Sie erlebt Farbe. Und plötzlich müsste sie, wollte sie, dürfte sie davon erzählen. Doch wie?

Hier beginnt das Abenteuer der Sprache. Denn Sprache ist nicht nur ein System zur Wiedergabe von Wissen. Sie ist der Versuch, Erlebtes in Worte zu fassen. Etwas Einmaliges, Subjektives, in eine Form zu bringen, die andere Menschen berühren kann. Mary braucht neue Worte. Vielleicht nicht objektiver, sondern poetischer Natur. Vielleicht findet sie sie nicht gleich. Vielleicht erfindet sie sie.

Und genau das lehrt uns Mary über Sprache: Sie ist mehr als ein Mittel zur Übertragung. Sie ist ein Instrument der Annäherung, des Tastens, des Neuschaffens. Sie kann niemals alles sagen, aber sie kann andeuten, verweisen, bewegen. Und je tiefer das Erleben, desto mehr braucht sie den Mut, ungewohnte Wege zu gehen.

Philologie, verstanden als Liebe zur Sprache, beginnt also dort, wo das bloße Wissen endet. Dort, wo ein Mensch aus einem Raum tritt, in dem alles bekannt schien, und etwas sieht, das nicht eingeplant war: die Farbe des Lebendigen.

Mary ist eine Allegorie für uns alle. Wir leben in Sprachräumen. Aber manchmal öffnet sich eine Tür, und wir sehen etwas Neues. Dann müssen wir unsere Sprache mitnehmen, sie befragen, verwandeln, weiten. Vielleicht ist das der eigentliche Logos: Nicht das Wort, das erklärt – sondern das Wort, das lebt.