Zwischen Raupe, Schwarm und Maschine – was den Menschen wirklich ausmacht
Was ist Intelligenz? Ein Quiz lösen? Komplexe Probleme erkennen? Sinn spüren? In einer Zeit, in der Maschinen mit uns reden, Schwärme im Internet Muster erkennen und Tiere ohne Bewusstsein erstaunlich handeln, wird diese Frage neu gestellt. Vielleicht hilft ein Blick auf drei sehr verschiedene Erscheinungsformen dessen, was wir Intelligenz nennen: die biologische, die kollektive und die künstliche.
Hoimar von Ditfurth beschreibt in seinem Buch „Im Anfang war der Wasserstoff“ ein eindrucksvolles Beispiel: Die Raupe des Atlasspinners beißt mehrere Blätter an, damit diese verwelken und sich einrollen. In einem dieser eingerollten Blätter verpuppt sie sich. Für Fressfeinde wird sie so nahezu unsichtbar. Das Erstaunliche daran: Die Raupe besitzt kein Gehirn, keinen Willen, keine Vorstellung von Tarnung. Und doch scheint ihr Verhalten planvoll. Ditfurth stellt daher die Frage, ob Intelligenz vielleicht gar nichts mit Bewusstsein zu tun haben muss, sondern auch dort existiert, wo sie sich nur als Zweckmäßigkeit zeigt. Die Natur selbst – über Generationen, durch blinde Evolution – hat dieses Verhalten hervorgebracht. Es wirkt klüger, als es gemeint ist.
Ein ähnliches Phänomen begegnet uns in der sogenannten Schwarmintelligenz. Schwärme von Tieren handeln, ohne sich zu verständigen, ohne Anführer, ohne Ziel. Und doch entsteht aus ihrem Zusammenspiel Ordnung, Reaktion, Anpassung. Im digitalen Raum ist es ähnlich: Millionen Menschen schreiben, klicken, reagieren – und aus dieser Masse formen sich Trends, Bewegungen, manchmal auch kollektive Einsichten. Es ist eine Intelligenz ohne Zentrum, ohne Ich. Niemand denkt das Ganze, und doch ist es da.
Die dritte Erscheinung ist die künstliche Intelligenz. Künstliche Intelligenzen verarbeiten Daten, erkennen Muster, generieren Sprache, Bilder oder Vorhersagen. Sie wirken mitunter klug, weil sie gelernt haben, was Menschen sagen, wie sie schreiben, worauf sie reagieren. Doch sie empfinden nichts. Sie wissen nicht, was sie sagen. Sie können nicht staunen, nicht zweifeln, nicht trösten. Sie funktionieren – und tun es gut. Aber sie wissen nicht, dass sie funktionieren. Ihr Wirken ist berechenbar, rekombinierend, niemals bewusst. Sie spiegeln, was Menschen hinterlassen haben – aber sie tragen kein Innenleben in sich.
Und der Mensch? Er ist ein Wesen dazwischen – und darüber hinaus. Er erkennt in der klugen Tarnung der Raupe ein Wunder. Er kann im kollektiven Rauschen Sinn und Gefahr gleichermaßen sehen. Und er versteht, dass eine Antwort nicht genügt, wenn sie keine Verantwortung trägt. Der Mensch spürt Freiheit – nicht nur als Zustand, sondern als Möglichkeit: die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen, auch ohne äußeren Zwang, auch ohne direkte Konsequenz. Nur andere Menschen werden ihn dafür beurteilen, verurteilen – oder verstehen. Er erlebt sich selbst als Ich, als Wesen mit Biografie, mit innerem Maßstab. Und er empfindet Gerechtigkeit – nicht als abstrakte Regel, sondern durch Empathie, durch das Leid des Anderen.
Vielleicht liegt die eigentliche Intelligenz des Menschen nicht im Verstand, sondern in seiner Fähigkeit, Bedeutung zu empfinden. Die Natur kann handeln, ohne zu wissen. Der Schwarm kann wirken, ohne zu wollen. Die Maschine kann antworten, ohne zu verstehen. Der Mensch aber kann fragen, was gut oder schlecht ist – und warum. Der Preis dafür ist, Verantwortung für sein Handeln zu tragen. Verantwortung ist dabei nicht mit Schuld gleichzusetzen. Schuld haftet an Vergangenem, Verantwortung aber richtet sich auf das, was noch kommt. Und dafür besitzt der Mensch etwas, das keine andere Intelligenzform kennt: ein sich in seiner Entwicklung bildendes Gewissen. Und dieses Gewissen ist die Instanz, die über gut und böse, schön und hässlich, wertvoll oder wertlos abhängig von der Verknüpfung seiner Erfahrungen mit seinem Wissen entscheidet. Aber das nicht fest von Geburt an, sondern geprägt von der Kultur seiner Umgebung. So wird der Mensch erst in seiner Entwicklung wirklich zum Menschen und er braucht dazu keine Intelligenz.
Menschlichkeit beginnt durch die Bildung eines Gewissens und der Fähigkeit, in anderen sich selbst zu sehen. Die Basis der „goldenen Regel“, die in allen Kulturen der Welt zu finden ist.